«Man muss mehr nachdenken!»

Wie ein Spitzenmanager in der Distribution mit der herrschenden Nachfrageschwäche umgeht; ob Ingram Macrotron im Netzwerkgeschäft die VADs angreift; und wie sich Ingram Schweiz im Konzern positioniert – diese Fragen stellten wir Michael Kaack (Bild).

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2001/17

     

Michael Kaack ist der Leiter von Ingram Macrotron Zentraleuropa und zusätzlich zuständig für Ingrams Netzwerk-VAD-Arm. IT Reseller hat sich exklusiv mit ihm zur Lage in der paneuropäischen Distribution unterhalten.
IT Reseller: Man sagt, die Schweiz sei extrem überdistribuiert. Ein kleiner Markt mit ähnlich vielen Distributoren wie in Deutschland. Wird es eine Konsolidierung geben?
Michael Kaack: Der durchschnittliche Schweizer Handelsbetrieb überlegt sich, wieviel Rohertrag er braucht, um seine Kosten zu decken. Diese intellektuelle Fähigkeit vermisse ich in Deutschland öfter mal... Der Markt in der Schweiz ist insofern disziplinierter. Der Wettbewerb ist weniger unsinnig und die Beziehungen zwischen Distributoren und Händlern sind langfristiger als in Deutschland und wohl auch in den USA.

ITR: Aber man wirft sich auch in der Schweiz gegenseitig Dumping vor.

MK: Sicher, das ist überall so. Aber die Leute tun es stärker oder weniger stark – in der Schweiz eher weniger.
ITR: Denken Sie, dass es mit der Fusion von Compaq und HP und der schlechten Konjunktur zu einem Shake-Out unter den Distributoren kommen wird.
MK: Ich hoffe es zumindest. Viele grosse Hersteller, zum Beispiel Cisco und 3Com denken daran, ihren Absatzkanal zu limitieren. Aber man kann langjährige Geschäftsbeziehungen nicht so einfach beenden. Auch die anderen Hersteller sind gut beraten, darüber nachzudenken. Denn der Distributor ist ja nicht der Market-Maker. Der Hersteller muss selbst Nachfrage generieren und jene Distributoren aussuchen, welche die beste Logistik stellen.
In der Schweiz käme sicher jeder grosse Hersteller mit drei Distributoren aus – aber jeder hat mehr.
ITR: Trotzdem stelle ich fest, dass es immer wieder neue Firmen gibt, die in die Distribution einsteigen. Was würden Sie diesen Leuten sagen?
MK: Was soll man sagen, ausser «Good Luck»? In der Komponentendistribution haben wir möglicherweise Kompetenzen in Bezug auf den besten Preis verloren. Denn ein Unternehmen wie Ingram kann nicht auf dem Graumarkt einkaufen. Der Markt für Komponenten ist wahrlich grau. Da gibt es Mehrwertsteuerschmuggler und illegale Importe – alles mögliche. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Waren legal sind. Da verzichten wir manchmal ganz bewusst auf Geschäft.
Aber der Komponentenmarkt hat nicht mehr die Wachstumsraten von ehedem. Marken-PCs setzen sich vermehrt durch und nehmen den Assemblierern Geschäfte weg. Die Marke wird in Zukunft noch mehr zählen. Und ich bezweifle stark, ob der Home-Bereich für die Assemblierer Zukunft hat. Im Consumer-Markt werden ganz andere Produkte, wie zum Beispiel PDAs, wichtig.
ITR: Ist es vorstellbar, dass es auch bei den grossen und mittleren Distributoren wie Ingram, Tech Data, Actebis, Also oder COS zu einer Konsolidierung kommt? Ist ein zweiter «Fall CHS» möglich?
MK: In der Schweiz ist Also ABC natürlich ein Broadliner, in Deutschland aber ein Nischendistributor. Also ABC deckt Nischen wie der Client/
Server-Markt und gewisse Retailer mit sehr begrenztem Sortiment ab.
Der Fall CHS ist speziell: Man hatte zum Teil falsche Zahlen geliefert. Das Geschäftsmodell von CHS mit sehr unabhängigen Filialen konnte nicht funktionieren, denn man kann über eine solche Gesellschaft den Überblick gar nicht behalten. Ich glaube deshalb nicht, dass ein ähnlicher Crash noch einmal passieren kann.
Aber die kleinen und mittleren Broadliner werden unter Druck kommen. Die machen keinen Sinn und sind auf Dauer nicht überlebensfähig.
Nischendistributoren wird es hingegen immer geben. Sie haben zwei Vorteile. Sie können sich auf ihre Kernkompetenz fokussieren und sie haben relativ geringere Kosten. Sie müssen nicht die ganze Komplexität des Geschäfts abdecken.
Ich gebe ihnen ein Beispiel: Wenn Sie eine Vielzahl von Herstellern distribuieren, dann können Sie nicht jeden individuell behandeln. Man muss also bestimmte Standards schaffen, die allen Lieferanten und Kunden gerecht werden. Das kostet sehr viel Geld. Ein Teil der Lieferanten und der Kunden wird diese hohen Standards, zum Beispiel Accounting-Module, aber gar nicht nutzen. Der Broadliner wird aber im Gegensatz zum Nischendistributor jeden Kunden bedienen – dazu verpflichtet er sich gegenüber dem Hersteller.

ITR: Ingram bedient in Deutschland auch Kleinst-Reseller?

MK: In Deutschland schon. In der Schweiz ist die Situation anders. Die Schweizer Ingram hat sich zu Beginn mehr auf VARs konzentriert. Inzwischen können wir in der Schweiz aber auch eher KMU-Kunden bedienen und der KMU-Anteil steigt nun auch dort. Kleine Händler sind ja auch notwendig. Ein grosses Systemhaus kann keinen Handwerks-Betrieb in Zermatt bedienen. Die kleinen Händler werden deshalb noch lange überleben.
Aber es ist sehr aufwendig und auch nicht ganz billig, diese Kunden zu beliefern. In der Vergangenheit hätte man in der Schweiz die kleinen Händler gar nicht bedienen können. Das Schweizer Management hat da immer eine gute Balance gefunden. Das Team in Hünenberg ist lange genug in der Branche und weiss, was man tun kann und was nicht.
ITR: Wie reagieren Sie auf eine Situation wie die heutige? Man sagt, der September sei sehr schlecht...
MK: Es ist erstaunlich. Man hat befürchtet, dass die Wachstumsraten sinken. Aber mit sinkenden Umsätzen hat keiner gerechnet. Die grössten Herausforderungen haben wir in dieser Situation in Deutschland. Das Schweizer Unternehmen ist noch sehr flexibel. In diesem Jahr sind wir in der Schweiz überproportional gewachsen - sehr deutlich im zweistelligen Bereich. Wir haben glücklicherweise nicht aggressiv Personal aufgebaut. Ich sehe deshalb besonders für die Schweiz keinen Bedarf für sofortige Restrukturierung. Generell sehe ich Unternehmen wie Ingram überhaupt nicht gefährdet. Die Leistungen, die wir erbringen, kann kein Hersteller übernehmen. Ohne die Distribution geht es nicht.

ITR: Wagen Sie zur Zeit überhaupt noch Konjunktur-Prognosen?

MK: Dazu kann man zur Zeit überhaupt nichts mehr sagen. Wir erwarten auf keinen Fall grössere Wachstumsraten im nächsten Jahr. 2002 wird eher stagnieren. Wir planen heute lieber ohne Wachstum. Falls es doch kommt, können wir immer noch damit umgehen.
ITR: Ingram ist in den USA stark unter Druck. Ich stelle mir vor, dass damit der Druck auf Sie grösser wird. Ist das so?
MK: Nein. Ich muss sowieso sicherstellen, dass wir in Zentraleuropa schwarze Zahlen schreiben und dass ich die Kosten senke, wenn die Umsätze nicht kommen. Jeder Country Manager ist für seine Ergebnisse verantwortlich. Natürlich machen die internationalen Vorgesetzten zusätzlichen Druck - aber das halte ich für normal.
Wir haben den Vorteil des Vergleichs zwischen den Ländern. Bei diesem Benchmarking entdecken wir hie und da, dass nicht jeder ‘best practices’ einsetzt. Da kann man Kosten einsparen. Kostenbewusstsein ist sicher die höchste Priorität in der Distribution heute. Bisher waren wir gewöhnt, Kosten über höhere Volumina zu reduzieren. Nun müssen wir lernen, bei gleichbleibenden Volumina Kosten einzusparen. Auch damit werden wir fertigwerden.
Wir sitzen oft mit Herstellern und Händlern zusammen und überlegen, wo wir noch Kosten aus der Lieferkette rausnehmen können.
ITR: Warum sind bis heute mittelgrosse Firmen wie Also ABC profitabler als die beiden Riesen Tech Data und Ingram? Wann werden die «Economies of Scale» zum Tragen kommen?
MK: Der Euro wird uns dabei sicher helfen. Ebenfalls ein Faktor sind die zentralen Läger.
Wir machen manchmal weniger Gewinn, weil wir europaweite Standards in der Software entwickeln. Wir haben zum Beispiel europaweit die gleichen, mehrsprachigen Artikelstammdaten. Aufgrund dieses Artikelstamms haben wir ein paar globale Kunden. Zwar sind es noch nicht so viele, aber es werden in nächster Zeit mehr werden.
Einige Länder leiden natürlich darunter, dass Funktionalitäten abgedeckt sind, die sie nie brauchen. Diese Funktionalitäten muss man abertrotzdem bezahlen. Auch der Qualitätsstandard, den wir erfüllen wollen, ist teuer. Der Konzern würde aber unberechenbar, wenn individuelle Lösungen entwickelt würden. Langfristig sind unsere weltweiten Standards aber ein sicheres Asset für beste Qualität und Performance, die lokale Wettbewerber nicht so leicht erreichen können.
ITR: Sie leiten ja auch die europaweite vertikale Einheit für Networking. Wir haben den Eindruck, dass Ingram eine Art VAD aufbaut?
MK: Das ist richtig. Als Broadliner kann man nicht sagen: «wir machen alles und wir können alles.» In Deutschland sind wir sehr gross. Wir beliefern Retailer aber auch Systemhäuser, die völlig unterschiedliche Anforderungen haben. Für einen Broadliner ist das die grösste Herausforderung. Nun gilt es die Marktbereiche zu identifizieren, die eine spezielle Behandlung brauchen und diese entsprechend organisatorisch zu hinterlegen.
Einer der zukunftsträchtigsten Bereiche ist sicher das Networking. Ich bin dafür zuständig, den Bereich europaweit auszubauen. Wir machen heute mit Networking etwa eine Milliarde Umsatz, das sind fast 20 % unseres Umsatzes. Der Bereich wächst am schnellsten und wir wollen dort noch weiter wachsen. Die VARs und Systemintegratoren werden in diesem Bereich immer beim Distributor bestellen müssen, denn die Hersteller können nicht so schnell und in dieser Breite wie wir liefern. Dazu kommt, dass im Client-Server-Bereich eine Sättigung eingetreten ist. Damit sind wir mit der Fokussierung auf Netzwerkprodukte auf dem richtigen Weg.

ITR: Sie verkaufen auch Dienstleistungen?

MK: In Deutschland tun wir das, in der Schweiz denken wir darüber nach. Value added distribution beinhaltet ganz klar auch den Verkauf von Dienstleistungen.

ITR: Das sieht wie ein frontaler Angriff auf Azlan und Magirus aus.

MK: Im Hardware-Bereich sehe ich Azlan ganz klar als Wettbewerber. Magirus eher weniger. Wettbewerb könnte sich nur im oberen Bereich der Intel-Server ergeben.

ITR: Welche Dienstleistungen
verkauft die Networking-Unit? Engineering?

MK: Ja, das macht die Ingram-Tochter Compushak in Deutschland. Bis hin zu CTI-Projekten und der Einbindung von Telefonie-Anlagen.
ITR: Welche Bereiche werden noch dazu kommen? Man spricht heute viel über Storage.
MK: Storage binden wir in unsere Netzwerk-Einheit ein. Storage und Networking hängen unmittelbar zusammen. In den oberen Bereich sind wir als Ingram noch nicht eingedrungen. Compushak hingegen schon – und sie wird ihre Aktivitäten auch in weitere Länder ausdehnen.

ITR: Wird Ingram mit seiner Grösse die bestehenden VADs bedrohen?

MK: Nein, die VADs werden weiterhin ihre Chance haben. Die zentralen Systeme haben alle ihre Vor- und Nachteile. Beim Support denken wir zum Beispiel eher an telefonischen und Web-Support. Es wird weiter einen Bedarf für individuelle Beratung geben und deshalb glaube ich nicht, dass wir die kleineren VADs jetzt alle an die Wand drücken werden.
Aber sie müssen sich sehr genau überlegen, was sie wollen und wo ihr Geschäftsmodell liegt. Man kann nicht beratungsintesive Dienstleistungen und Schulungen verkaufen und nebenbei Hardware-Geschäfte machen.

ITR: Wie selbständig ist eine Länderorganisation bei Ingram?

MK: Im Rahmen des Budgets sind sie weitgehend frei. Wir machen jährlich einen Businessplan und besprechen monatlich die Abweichungen. Wenn sich ein MD im Rahmen der Ziele bewegt, ist er sehr frei. Keiner in Europa versteht alle Märkte. Das masst sich bei uns auch keiner an.

ITR: Wie wichtig ist für Sie das vergleichsweise winzige Schweizer Geschäft?

MK: Wir haben mehrere solcher Länder – darunter ist die Schweiz überhaupt nicht das kleinste Land. Ingram Micro ist in Portugal, Finnland, Norwegen und Schweden auch vertreten. Die Schweizer mausern sich immer mehr zu einem mittleren Unternehmen. Die Geschäftsentwicklung in der Schweiz ist mit hohen Wachstumsraten immer sehr zufriedenstellend. Ich glaube, dass unser Schweizer Team auch in diesem Jahr gut unterwegs ist.
ITR: Tech Data ist in der Schweiz sehr aktiv und entwickelt laufend neue Modelle. So bringen sie jetzt eine Kreditkarte für Reseller – der nächste Schritt wird eine Karte für Endkunden sein. Was halten Sie von diesen Modellen?
MK: Damit haben wir uns für die Schweiz noch gar nicht befasst. In Deutschland funktioniert so etwas nicht. Die Firmen arbeiten kaum mit Kreditkarten. Ich glaube nicht, dass Kreditkarten ein Konzept für die Distribution sind.
ITR: Was halten Sie von «Agent Fee»-Modellen, wo der Distributor dem Endkunden direkt verrechnet?
MK: In Deutschland diskutiert man erst darüber. Aber der Händler, vom kleinen bis zum Corporate Reseller, sieht einen Grossteil der Kundenbindung in der Auslieferung von Hardware. Viele grosse Systemhäuser denken trotzdem über das Outsourcing des Hardware-Geschäfts nach. Wir haben dafür eigene Leute, die diese Möglichkeiten mit dem Händler besprechen. Wir können ja auch mit Lieferschein oder sogar Rechnung des Händlers liefern. In den USA gibt es dafür einen eigenen Geschäftsbereich, IM Logistics. Dieser Bereich handelt nicht, sondern erbringt
Logistik-Dienstleistungen. Diese Software steht auch uns zur Verfügung und gerade jetzt sind wir dabei, sie in allen Ländern zu implementieren. Das ist für uns ganz klar ein grosses Wachstumssegment.
ITR: Wie ist für Sie persönlich eine Situation wie die jetzige? Plötzlich merkt man: «Der Herbst wird viel schlechter als erwartet.» Wie geht ein Spitzenmanager mit dieser Situation um?
MK: Man muss mehr arbeiten. Man muss mehr nachdenken und sich Zeit dafür nehmen. Man muss überlegen, wie man den eigenen Marktanteil sichert oder erhöht. Wir haben dieses Jahr in Deutschland unseren Marktanteil erhöht und deshalb nicht solche Einbrüche erlebt.
Einen solchen Einbruch wie dieses Jahr hat es aber noch nie gegeben. Andererseits waren wir in der Distribution ja schon immer unter Druck und sind an eine solche Situation gewöhnt. Distributoren sind den Wandel in der Organisation und bei den Produkten gewöhnt.
Unser Hauptjob ist deshalb sowieso Change-Management. Das eigene Unternehmen zu verändern, muss eine Kernkompetenz des Managements sein. Das müssen wir nun dieses Jahr wieder. Vielleicht eine ein bisschen schmerzhaftere und schwierigere Aufgabe, aber schlussendlich auch eine lösbare.
(Interview: hc)


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