Auf den ersten Blick hat die Bürowelt, regiert von Excel, Outlook und Terminplan, nicht viel zu tun mit Videospielen. Betrachtet man die Evolution von PC und digitaler Arbeit jedoch genau, zeigt sich, dass sich «seriöse» Anwendungen und Spiele über drei Jahrzehnte befruchteten. Die Arbeitswelt übernahm viel von dem, was als Spielspass begann.
Games als Ingenieursprozess
Lange bevor Rechner von Raum- auf Schreibtischgrösse schrumpfen und aus den Universitäten in die Büros der Privatwirtschaft kommen, wird auf ihnen bereits gespielt. Am MIT entsteht 1961 «Space War» auf dem «Minicomputer» PDP-1, ein Monster so gross wie ein Gefrierschrank. Mitte der 1970er-Jahre simuliert William Crowther ein Höhlensystem auf dem PDP-6 und erfindet damit das «Adventure»-Spiel; der Computerwissenschaftler wird später als Miterfinder des Internets berühmt. In dieser Informatik-Frühzeit sind Spiele nicht ein Abfallprodukt, sondern entpuppen sich als integraler Bestandteil des Ingenieurprozesses. So befeuert der Versuch des Computerforschers Ken Thompson, sein PDP-Spiel «Space Travel» auf andere Plattformen umzusetzen, die Entwicklung von UNIX.
Mit dem ersten Mikroprozessor (1971) ist die Zeit reif für die Erfindung und den schnellen Siegeszug des «Personal Computers». Als Prototyp gilt der
Apple II von 1978, auf dem mit «Visicalc» die erste Tabellenkalkulation läuft. Bevor
IBM den Markt der DOS-PCs errichtet, beherrscht der Apple II die US-Szene.
Apple-Erfinder von Games inspiriert
In der öffentlichen Wahrnehmung hervorgehoben und gegen technisch ähnliche Konkurrenten durchgesetzt hat sich der Apple-Rechner aufgrund von Fähigkeiten, die der ersten Videospiel-Welle zu verdanken waren: «Viele der Features wurden eingebaut, weil ich davor [das Atari-Spiel] Breakout entwickelt hatte», berichtet Apple-Mitbegründer Steve Wozniak, der in seinen Computer auch einen Lautsprecher schraubt, um einen herumhüpfenden Spielball akustisch zu unterlegen: «Das war nicht geplant, sondern eher ein Unfall. (...) Die Fähigkeiten, die den
Apple II so hervorragend machten, kamen alle von einem Spiel.» Ein halbes Jahrzehnt später tut
IBM es ihm nach und steckt dem ersten DOS-PC ebenfalls einen «Piepser» als musikalische Minimalausstattung unters Gehäuse.
Games lassen Halbleiter boomen
Um 1980 ist der PC-Markt noch überschaubar, nicht mehr als fünf Millionen Rechner sind weltweit im Einsatz. Nicht Bürokisten, sondern Videospiele lassen den Halbleitermarkt boomen: Die Konsolen von Atari,
Philips und Mattel schreien nach CPUs, Speicher- und Hilfs-Chips und lasten damit die Fertigungsstrassen von Texas Instruments,
Motorola und anderen voll aus. Die erste Mainstream-Anwendung der Intel-CPU 8080 ist der Spielautomat «Space Invaders».
Doch nicht nur Abspielgeräte, Automaten und Konsolen brauchen Chips, sondern auch die Software: 1977 bis 1983 erscheinen fast alle Spiele auf ROM-Chips, einzelne Titel in einer Auflage von mehreren Millionen – dank dem Spiele-Boom wird Halbleiter zum Massenartikel, die Preise sinken. Erkennen davor nur Elektronik-Freaks und verstrubelte Wissenschaftler den Computer als Werkzeug der Zukunft, legt ab 1982 die zweiten Spielewelle mit dem Siegeszug der Heimcomputer das Fundament zum Massenmarkt.
Geburtenhelfer von Windows
Die PC-Könner der Gegenwart sind in den 80er-Jahren jugendliche User des C-64, die mit ihrem ersten eigenen Rechner programmieren, musizieren, entwerfen – und vor allem spielen. Hinter den rund 30 Millionen verkauften C-64- und Amiga-Computern tippen und spielen die Computer-Einsteiger der Geburtsjahrgänge 1965 bis 1975 – der Boden ist bereitet für den Windows-Mainstream.
Spiel- und Grafikcomputer, nicht die ernsthaften Text- und Grafikkisten, führen die erste Generation an den «persönlichen» Computer. Plötzlich weiss jeder, was eine Diskette ist; auch auf Ladezeiten, «Aufhänger» und Abstürze wird man in den 1980er-Jahren spielerisch vorbereitet.
Testfeld und Technologietreiber
Als in den 1990er-Jahren der Siegeszug der CD-ROM beginnt, hat diese Technik ihren Massenmarkt-Test auf dem Spielmarkt schon absolviert und bestanden. Während westliche Computer- und Elektronik-Bauer mit dem optischen Speicher noch nicht viel anzufangen wissen, nützt es der japanische Konzern
NEC als Speichermedium für seine Spielkonsole PC-Engine. Die ersten nativen CD-ROM-Anwendungen für den Massenmarkt sind Spiele.
Ein Flop ist der Atari-Versuch, Videospiele durch die Telefonleitung, also «online», zu vermarkten. Anfang der 1980er-Jahre gibts noch kein WWW und kein MSN, nur für Wissenschaftler ist DFÜ schon ein Thema. Der Gameline-Service von Atari schläft schnell wieder ein. Doch aus dem Unternehmen Control Video Corporation baut der junge Marketing-Manager Steve Case das C-64-Netzwerk
Quantum Link, schliesslich den Online-Dienst America Online, auf dem 1991 das erste Online-Rollenspiel startet. 1994 vermeldet Case seine erste Million Abonnenten. 2001 zahlt AOL über 100 Milliarden Dollar für Time Warner und wird zum grössten Medienkonzern der Welt.
Mächtige Technologie im Wohnzimmer
Videospiele bleiben ein Motor der technischen Entwicklung. Sega und
Sony verbauen RISC-CPUs und spezialisierte Grafik-Chips in ihren Konsolen und bringen damit schnelles Echtzeit-3D in die Haushalte. Später zieht die PC-Welt mit DirectX, 3D-Karten und RISC-Komponenten nach.
Unbemerkt von der PC-Öffentlichkeit setzt die Firma
Nintendo 1996 eine schnelle Speichertechnologie der damals noch völlig unbekannten US-Firma Rambus ein. Damit ist der Spielmarktführer viel früher dran als der Rest der Welt. Das erste PC-Motherboard mit RDRAM-Unterstützung erscheint erst 1999.
Im 21. Jahrhundert sind Spielkonsolen längst die mächtigsten «persönlichen» Rechner, so mächtig, dass ihre Leistung wieder in die Wissenschaft zurückfliesst: Mitte 2007 liefern eine Viertelmillion private Playstation-3-Konsolen mehr Leistung in das medizinische Folding@home-Projekt der Stanford-Universität als alle anderen Betriebssysteme, Windows und Mac OS eingeschlossen.
Auch beim Sprung in die Zukunft der Gedankensteuerung von Programmen und Computern stehen Videospiele im Zentrum: An der Universität von Washington gelingt es Wissenschaftlern, Gehirnströme abzugreifen und zur Software-Steuerung einzusetzen. 2006 spielt ein 14jähriger Epilepsie-Patient dort Space Invaders. «Er schaffte den ganzen Level, nur durch Gedanken-Kontrolle.» (Winfried Forster, Bildrechte: www.gameplan.de)