Die Schweizer IT-Branche profitiert von der Personenfreizügigkeit

Eine Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Mitgliedstaaten bedeutet nicht mehr Druck für Schweizer Informatiker – wenigstens nicht bis 2011, denn so lange sind die IT-Fachkräfte aus diesen Ländern auf dem Schweizer Arbeitsmarkt diskriminiert.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2005/13

     

Am 25. September wird die Schweiz über das Abkommen mit der Europäischen Union (EU) über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen Mitgliedstaaten (siehe Kasten) abstimmen. Was genau bedeutet dieser Urnengang für Schweizer Informatiker und die IT-Branche? «Die Auswirkungen der Abstimmung auf die IT-Branche werden bis zum Jahr 2011 sehr gering sein», sagt Daniel Oesch (Bild), Zentralsekretär beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB: «Während dieser Übergangsfrist gibt es Ausländerkontingente, den Inländervorrang für inländische Arbeitsuchende und die behördliche Lohnkontrolle vor der Anstellung einer Person aus den neuen Mitgliedstaaten.»

Auswirkungen erst von der «alten» EU

Hingegen habe die bereits heute stattfindende Personenfreizügigkeit mit den alten EU-Mitgliedern, die seit Juni 2004 Realität ist, zweifellos einen Einfluss auf die IT-Branche. Für Diskussionsstoff sorgt regelmässig deren wichtigster und spürbarster Effekt: «Das Arbeitsangebot an IT-Fachleuten ist mit der Personenfreizügigkeit sehr stark ausgeweitet worden. Auf Stellenangebote für Informatiker dürften auch viele Fachleute aus den Nachbarländern antworten – vor allem aus Deutschland und Frankreich», sagt Oesch. Dass dies schon heute so ist, hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in seinem vergangene Woche vorgestellten Observatoriumsbericht allerdings nicht eindeutig bestätigen können (siehe Kasten). Für Oesch liegt die Gefahr dieser Entwicklung darin, dass die zusätzliche Konkurrenz Druck auf die Löhne ausübt. Denn im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern würden sprach- und ortsspezifische Kenntnisse im IT-Bereich eine untergeordnete Rolle spielen: «Es wird für Informatiker deshalb wichtiger werden, sich kollektiv zu organisieren und ihre Arbeitsbedingungen mit Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen abzusichern.» Wichtig sei jedoch zu wissen, dass dieser Druck durch neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren nicht aus dem Osten, sondern von den «EU-15» kommen werde: «Vor dem Jahr 2011 bleiben Angehörige der neuen EU-Mitgliedstaaten auf dem Schweizer Arbeitsmarkt diskriminiert», betont Oesch.

Mehr Flexibilität für die Firmen

Begrüsst wird eine Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auch von der IT-Branche – und zwar von Schweizer Firmen wie auch von Niederlassungen internationaler IT-Konzerne. «Eine solche Ausdehnung ermöglicht es gut ausgebildeten Berufsleuten, vermehrt im Ausland tätig zu sein. Für Unternehmen in der Schweiz heisst es, dass sie vermehrt auf Ressourcen aus dem Ausland zugreifen und so ihren Kunden optimale Dienstleistungen anbieten können», sagt etwa Susan Orozco, Sprecherin von IBM Schweiz.
Profitieren würden auch lokale Software-Spezialisten wie Adnovum: «Die Schweizer Informatik-Branche muss flexibel und mit kontinuierlichen Prozessoptimierungen auf sich schnell ändernde Gegebenheiten reagieren», sagt Sprecher Thomas Schönfelder. Adnovum verfolge in der Software-Entwicklung einen kombinierten Ansatz, der die automatisierte, verteilte Programmierung, den Einsatz von Teams in verschiedenen Zeitzonen und Kontinenten sowie die Auslagerung klar definierter Aufgaben beinhalte: «Eine eminent wichtige und erforderliche Grösse für den effizienten Weiterausbau dieses Modells, von dem alle Seiten profitieren, ist die Personenfreizügigkeit», so Schönfelder.
Zustimmung kommt auch aus dem Lager der Banken-IT: «Die Raiffeisen-Informatik ist auf Personen mit hohen, zum Teil sehr unterschiedlichen Fähigkeiten angewiesen. Eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes würde dazu führen, dass Personen mit den notwendigen Fähigkeiten bei Bedarf schneller und unkomplizierter organisiert werden könnten», sagt Jeannette Wild Lenz, Sprecherin der Raiffeisen-Gruppe.

Hochqualifizierte IT-Leute sind immer willkommen

Auch die Swiss Interactive Media and Software Association (Simsa) ist der Meinung, dass die Schweizer Software-Industrie von der bisher erreichten und der neuen Personenfreizügigkeit profitieren kann: «Software-Engineering wird mehr und mehr zu einem globalisierten Produktionsprozess. Darum unterstützt Simsa diesen weiteren Öffnungsschritt. Eine Abschottung wäre wettbewerbsbehindernd und würde mittel- und langfristig schaden», sagt Verbands-Vizepräsident Walter Duss.
Den häufig gehörten Einwand, dass es doch schon heute in der Schweiz zu viele Informatiker gebe, lässt auch Thomas Stoffel, Geschäftsführer des IT-Stellenvermittlers CBA in Zürich nicht gelten: «Es stimmt nur bedingt, dass wir zu viele IT-Leute in der Schweiz haben», sagt er. Zwar seien viele Quereinsteiger und Generalisten auf dem Markt, aber zu wenig hochqualifizierte IT-Arbeitskräfte, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss vorweisen können: «Weil aber solche Leute von den Firmen verlangt werden, stehen wir einer Ausweitung der Personenfreizügigkeit positiv gegenüber», sagt Stoffel. Vor allem in den ehemaligen baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland, aber auch in anderen europäischen Ländern seien hochqualifizierte Ressourcen vorhanden. Diese seien vor allem dann für den Schweizer Markt interessant, wenn die Leute der deutschen Sprache kundig seien.

Seco: Zuwanderung, Arbeitslosigkeit und Lohnniveau konstant

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat vergangene Woche einen Observatoriumsbericht über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit mit den «alten» EU-Staaten auf den Schweizer Arbeitsmarkt vom 1. Juni 2002 bis zum 31. Dezember 2004 vorgestellt. Demnach hat die Zuwanderung in diesem Zeitraum insgesamt abgenommen, sich aber zugunsten einer Zuwanderung aus den EU-Staaten auf Kosten von Drittländern verlagert. Auf die Arbeitslosigkeit und das Lohnniveau will das Seco keine Auswirkungen festgestellt haben. Dies darum, weil sich die Arbeitslosigkeit in den Branchen mit den höchsten Zuwanderungsraten – z.B. dem Gastgewerbe – nicht signifikant erhöht habe. Dennoch hat die Arbeitslosigkeit in der Kategorie «Immobilien, Beratung, Informatik, F&E» zwischen Mai 2001 und Mai 2004 von 2,4 auf 6,4 Prozent zugenommen. Sie ist damit rund 2,5 Prozentpunkte höher als die Gesamtarbeitslosenquote, die seit Mitte 2003 auf knapp unter 4 Prozent verharrt.
Trotz schleppender Konjunktur fiel die Nachfrage nach ausländischen Arbeitnehmern seit 2002 relativ hoch aus, wie das Seco weiter feststellt. Dies lasse auf einen gewissen Nachholbedarf der Wirtschaft schliessen, die ganz klar auf ausländische Fachkräfte angewiesen ist. So wurden die Kontingente für Daueraufenthalter trotz Inländervorrang voll ausgeschöpft, jene für Kurzaufenthalter aber lediglich zu 60 Prozent.

Darum geht es am 25.9.

Am 1. Mai 2004 wurde die Europäische Union um zehn neue Mitgliedstaaten erweitert: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Damit wächst die EU von
15 auf 25 Mitgliedstaaten.
Nachfolgend auf diese Erweiterung müssen die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU aus dem Jahr 1999 auf die neuen Mitgliedstaaten angepasst werden. Sechs der total sieben Abkommen werden automatisch angepasst. Beim Abkommen über die Personenfreizügigkeit hingegen wurden Anpassungen nötig. Gegen das zwischen der Schweiz und der EU ausgehandelte überarbeitete Vertragswerk wurde erfolgreich das Referendum ergriffen, weshalb es am 25. September dieses Jahres zu einer eidgenössischen Volksabstimmung kommt. Gewerkschaften wie auch Arbeitgeber empfehlen ein «Ja» zur Ausdehnung der Freizügigkeit, denn nur so könnten Schweizer Arbeitsplätze langfristig gesichert werden. (bor)


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