HD über alles


Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2006/17

     

Manchmal gleitet das Leben an einem vorbei und man bleibt vom Rest der Welt unbemerkt. So kürzlich geschehen an einer CE-Messe, als ich in Lounge 3 vergessen wurde. Ich sass auf einem roten Designerplastikbänkchen, nippte an meinem Wasser nature und wartete. ­Neben mir Geschäftsherren in schwarzen Ledersesseln, die auch irgendwie warteten. Irgendwann, bevor sie sich über den Rotwein hermachten und es ihnen egal wurde, dass man sie nicht abholte. Formschön waren sie umsäumt von lindgrünem Seegras, das leise im Wind der ­Klimaanlage zitterte (die glücklicherweise nicht mit hauseigenen Batterien lief). Aus dem Hintergrund waberte Musik an unsere Ohren. Lounge-Chillout-Sound oder ­Chillin, wer kennt sich da schon noch aus.
Ich rückte 30 cm nach links, und ehe ich mich versah, war ich versehentlich in Lounge 4 geschwappt. Eine Hostesse winkte mir lächelnd zu, bevor sie hinter milchi­gen Plexiglaswänden für immer verschwand. Ansonsten passierte nichts. Schliesslich machte ich mich – immer an den weissen Fussmarkierungen entlangkriechend – selbst auf den Weg. Mehr aus Versehen geriet ich in ein HD-­Forum. High Definition steht für «so scharf wie ein Hai», witzelte der Marketingchef, und in der Tat, die Schuppen auf seinem dunklen Anzug waren gestochen scharf für alle Anwesenden sichtbar.
Auch die Nahaufnahmen von Seals Pockennarbengesicht und
B. B. Kings Nasenhaaren konnten mich noch nicht wirklich überzeugen, dass HD nun wirklich besser als das Standardformat ist. Wollen wir diese Details überhaupt so genau und scharf sehen? Ist es nicht besser, Falten, Pickel, Sommersprossen und schweissperlige Glatzen bleiben unter einem leicht ver­pixelten Dunstschleier verborgen? Als der Moderator uns dann noch auf seinem altrosa gestreiften Hemd den Eifleck vom Frühstück zeigte, trat auch mir langsam das Wasser aus den Poren. Doch dann zeigten sie uns Bilder vom Endspiel der Fussball-WM: Gestochen tiefenscharfe Luftaufnahmen, mit Musik untermalt, die einem das Blut in den Adern gefrieren liess. Schweisstriefende, durchtrainierte Männer, die nichts anderes wollten, als den verdammten Ball (glänzendes, weiss-goldenes Leder) mit ­ihren strammen Waden (modisch kurzgeschnittene Beinbehaarung) über den Rasen (handgetrimmt, ein Grün wie in Loriots Pferderennbahn-Sketch) in das verflixte Tor (feinmaschig handgeflochtenes Netz) zu kriegen. Und ein Franzose, der mit Glut in den funkelnden Augen seine ­faltenüberzogene Denkerstirn liebevoll einem Italiener an die Brust legte ... Ich geb’s nicht gerne zu, doch ich musste heulen. Ab sofort nur noch HD - und wenn ich den Rest meines Lebens in Lounge 3 sitzen muss! (Susann Klossek)


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