Wachstum mit der Stimme der Vernunft

Vor etwa zehn Jahren wurde IP-Telefonie als Boom-Markt gefeiert. Boomartig ist die Einführung zwar nicht gekommen, immerhin sind aber viele abgeschriebene Telefonanlagen mittlerweile durch moderne, IP-gesteuerte abgelöst worden. Diese Anlagen bilden nun das Fundament für das nächste Markt-Wunder: Unified Communication.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2008/15

     

Voice over IP: Jetzt geht der Boom los. So lautete die Schlagzeile eines IT-­Reseller-Artikels vor etwas mehr als acht Jahren. Was sich anhört wie das plumpe Kopieren einer relativ falschen Marktvorhersage, wurde im erwähnten Fachartikel selbstverständlich relativiert. Der damalige Lucent-Marketing-Mann für Zentraleuropa empfand Voice over IP (Voip) als noch nicht reif für den Markt: «Beim Telefonverkehr erwarten die Kunden eine Verfügbarkeit von 99,9999 Prozent. Die Datenwelt ist noch zu wacklig», sagte er. Mit der ersten Aussage behält er noch immer recht. Das liegt auch daran, dass Sprache neben der heute üblichen E-Mail-Kommunikation im Geschäftsumfeld als auch im privaten Umfeld die am meisten verwendete Technologie ist. Die technische Wackligkeit hat die IT-Industrie hingegen - zumindest was Voip-Verfügbarkeit betrifft - durch Weiterentwicklungen zu einem grossen Teil ausbügeln können.

Investitionen fliessen in Netzausbau

Heute treibt die Konvergenz von IT und Telefonie - neben der Verschmelzung von Netzwerk- und Speicherinfrastrukturen sowie der Virtualisierung von Servern, Clients und ganzen Netzwerken - den IT-Markt entscheidend an. Das liegt einerseits an den Vorteilen, die die IP-Telefonie den Unternehmen bietet, beispielsweise die lockende langfristige Kostenersparnis. Diese könne, so die Hersteller, vor allem durch die Senkung von Gesprächsgebühren, durch geringere Wartungs- und Unterhaltskosten sowie durch geringere Neuinvestitionen erreicht werden.

Zumindest das Argument der geringeren Neuinvestitionen sollte kritisch betrachtet werden, vor allem von Händlern. Denn weniger Neuinvestitionen heisst auch weniger Absatz, falls denn das eigene Geschäft direkt davon betroffen ist. Vor allem aber ist die These der geringeren Neuinvestitionen zumindest kurzfristig anzuzweifeln, denn der Einsatz von Voip­schafft gleichzeitig neue Bedürfnisse, weil die Ansprüche an Telefonkommunikation hoch sind. Das menschliche Gehör nimmt Verzögerungen von 50 Millisekunden wahr. Deshalb bedingt im Schnitt jeder Franken, der für IP-Sprachanwendungen ausgegeben wird, weitere drei bis fünf Franken Investitionen, die der Ausbau der Netzwerk-Infrastruktur auf das entsprechende Niveau erfordert. Die langfris­tige Einsparung der Unternehmen sollte dann darin liegen, dass für Sprache und andere Daten nur noch ein einziges Netzwerk nötig ist. Doch die von den Entscheidungsträgern erwarteten Kostenersparnisse sind unterschiedlich hoch. In einer aktuellen, von den Voip-Anbietern Interactive Intelligence und Toplink durchgeführten Befragung rechnen immerhin 86 Prozent mit einer langfristigen Kostenersparnis von 20 bis 40 Prozent.


Unbezweifelt ist hingegen, dass IT eine zunehmend wichtigere Rolle im Telefonie-Bereich übernimmt, denn alte Telefonanlagen werden zumeist von IP-basierten oder gemischten Anlagen abgelöst. Oft geht das heutzutage ohne Probleme über die Bühne, wie ein IT-Verantwortlicher eines mittelgrossen, weltweit tätigen Schweizer Unternehmens kürzlich gegenüber IT-Reseller erklärte: Die Telefonanlage sei an einem Freitagabend planmässig vier Stunden abgeschaltet worden. Danach waren mehrere hundert IP-Telefone reibungslos in den Betrieb integriert. Die Mitarbeiter hätten den Umstieg allesamt positiv wahrgenommen, denn «sie haben wie bisher einfach telefonieren können, etwas anderes wollen die meisten gar nicht». Kurz: IP-Telefonie kann mittlerweile bei richtiger Planung auf Anhieb problemlos funktionieren, und Technologieängste seitens der Nutzer sind kaum mehr spürbar.

Voip wächst überdurchschnittlich

Es ist anzunehmen, dass diese positiven Gründe aus Unternehmens- und Anwender-Sicht den Boom von Voip­erst jetzt richtig möglich machen. Laut Wolfgang Schwab, Senior Advisor beim Marktforschungsunternehmen Experton Group, entwickelt sich der Voip-Markt momentan äusserst dynamisch: «Insbesondere bei grossen Unternehmen sind die Einsparpotentiale im Netzwerkmanagement sehr hoch, sodass auch theoretische Qualitätseinbussen und nach wie vor bestehende Sicherheitsbedenken in Kauf genommen werden. Wenn die Hersteller die Sicherheitslücken vollends schliessen können, wird Voip im B2B-Markt die heute üblichen ISDN-Anschlüsse bis 2013 weitestgehend abgelöst haben», sagt er gegenüber IT Reseller. Schlägt man diese Prognose in Zahlen um, ist sie noch beachtlicher: In Deutschland, wo Voip-Technologien bisher eher stiefmütterlich behandelt worden sind, soll der Markt bis Ende 2009 geradezu explodieren. In den letzten zwei Jahren sind im grossen Kanton jährlich um die 50 Millionen Euro mit dem Voip-Geschäft umgesetzt worden. 2008 wird der Jahresumsatz voraussichtlich 240 Millionen, im Folgejahr gar 630 Millionen Euro betragen.


In der Schweiz, wo man bezüglich der Umstellung auf Voipschon seit einigen Jahren weniger zaudert als in Deutschland, sind die Wachstumsprognosen nicht derart exponentiell. Für den Geschäftskunden-Markt rechnet der Marktforscher MSM Research im laufenden Jahr mit einem Gesamtumsatz von etwas mehr als 331 Millionen Franken, was einem Wachstum von 16,3 Prozent entsprechen würde. 61 Prozent dieser Umsätze soll dabei auf Hosted Telefonie fallen, ein Viertel auf Hybrid-PBX-Systeme und knapp 14 Prozent auf Full-IP-PBX-Systeme. Gemessen am Wachstum sind Full-IP-PBX-Systeme am stärksten auf dem Vormarsch, während das Wachstum bei Hybrid-PBX-Systemen und etwas weniger auch bei der Hosted Telefonie abnimmt. Auch wenn das gesamte Voip-Wachstum 2009 leicht zurückgehen soll, nämlich auf knapp 13 Prozent, ist es immer noch ein um ein vielfaches höher als das prognostizierte Wachstum des gesamten IT-Umsatzes mit 4,1 Prozent.

Die nächste Umstellung wartet schon

Das Sinken der Wachstumsrate könnte zum trügerischen Schluss führen, dass die Transformation der Sprachkommunikation auf IP-Technologien in der Schweiz bereits ihren Zenit überschritten hat. Es ist ganz anders, weil Voip erst die Basis für ein System ist, das von bestehenden Hard- und Software-Herstellern für weitere Geschäfte genutzt wird. Um das Schlagwort Unified Communications (UC) ist in den letzten Monaten wohl niemand, der sich mit IT beschäftigt, herum gekommen. Die Zusammenführung aller elektronischen Kommunikationskanäle und computergestützten Kollaborationsformen - von Handy und Telefon über E-Mail und Instant Messaging bis zu Videotelefonie und der virtuellen Gruppenarbeit - in einer einzigen Plattform. Man könnte nun abwinken, auf die Boom-Prophezeiungen bei Voip verweisen, die sich erst Jahre später als vorausgesagt erfüllt haben. Aber erstaunlicherweise ist diesmal vieles anders.


Zwar hört sich auch bei UC vieles nach einem Hype an. So sollen beispielsweise ganze 86 Prozent der von MSM befragten Unternehmen sich bereits mit dem Thema UC befassen, was soviel heisst, dass eine UC-­Lösung entweder bereits realisiert wurde und man daran herumwerkelt, oder aber dass eine solche Einführung konkret geplant ist. Auch die Wachstumsprognosen sind überdurchschnittlich, für die nächsten zwei Jahre soll sie zwischen 12 und 13 Prozent betragen. Doch die Marktforscher sind diesmal vorsichtiger, die Prognosen sowohl quantitativ als auch qualitativ differenzierter.

UC-Wachstum primär bei Software

MSM unterteilt den UC-Markt in die Bereiche Services, Kollaboration, Computer Telephony Integration (CTI) und UC-Software. Das Wachstum soll bis Ende 2009 primär im UC-Software-Bereich stattfinden. Philipp A. Ziegler, Geschäftsführer von MSM Research, sagt denn auch: «Unified Communications ist keine Frage der Technologie, sondern eine Kultur- und Verhaltensfrage.» Dies hat auch die Frage nach der Akzeptanz einer UC-Lösung ergeben. Drei Viertel aller befragen Unternehmen sehen mit der Einführung einer solchen Lösung den erwähnten Kulturwandel und somit den längeren Zeitrahmen für die Implementation auf sie zukommen. Schulung und Training der Arbeiter ist für viele zentral, etwas mehr als ein Drittel wünscht sich von ihrem Anbieter speziell begleitende UC-Fördermassnahmen. Die Antworten zeigen zudem auf, dass eine Anbindung an bestehende Office-Umgebungen, an mobile Geräte und an klassische Geschäftsapplikationen wie ERP oder CRM ganz weit oben auf der Wunschliste stehen.


Wie schon beim aktuellen Sicherheits-Thema Data Leakage Prevention (DLP) geht es auch bei der Einführung von UC weniger um die quantitative Leistung von Hard- oder Software, sondern vielmehr um die Konzeption von auf Teams oder einzelne Arbeiter zugeschnittene Lösungen zur Optimierung der Kommunika-
tionskanäle. Studien des Berner Beratungsunternehmen Sieber & Partners zeigen bei Nutzern wahrgenommene Verbesserungen vor allem im reduzierten Zeitverlust durch unnötige Kontaktversuche. Die Unterbrechung der Arbeit hat bei den bisher umgesetzten Projekten eher zugenommen.

Die Rückkehr der Bedachtheit

Auch wenn die Treiber für den Einsatz einer UC-Lösung dieselben sind wie bei allen grossbetrieblichen Optimierungsprojekten - nämlich Produktivität, Schlankheit und Geschwindigkeit - scheint sich aufgrund der jahrelangen Erfahrung mit IT-Projekten eine etwas gesündere Haltung zur Totalerneuerung von Systemen zu entwickeln. Umstieg auf einen Schlag, Komplexitätsreduktion um jeden Preis scheinen nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Ängste wie mangelnde Transparenz und unreife Angebote von Anbietern oder vor der immensen Komplexität, die ein solches Projekt mit sich bringt, sind - vermutlich zu recht - auf Unternehmensseite wieder vermehrt anzutreffen. Manchmal braucht es offenbar einen falsch prophezeiten Boom, um auf den Boden der Realität zurückzufinden. (Claudio De Boni)


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