Letzten Sonntag war ich mit meiner Familie im Zürcher Weihnachtsdorf, dem wunderschönen Weihnachtsmarkt auf dem Sechseläutenplatz. Um den Nachmittag saisonal passend zu starten, orderten wir zwei Gläser Glühwein und für unsere drei Jungs je einen Apfelpunsch — trotz der zürcherisch-astronomischen Preise. Entsprechend dem Stand der Technik streckte mir die Dame vom Stand dann den Terminal für die Kartenzahlung entgegen und sagte: «Sie können hier auswählen.» Meine Erwartung, dass ich jetzt den PIN eingeben sollte, war falsch. Als ich das Mäusedisplay offensichtlich etwas verdutzt ansah, sagte sie «Für das Trinkgeld.» Bitte? In der Tat präsentierte der Bezahlterminal ein Auswahlmenü mit den Optionen «Kein Trinkgeld» (das war rot hinterlegt), «5% Trinkgeld», «10% Trinkgeld» (orange hinterlegt) und «20% Trinkgeld» (grün hinterlegt). Ich wurde also allen Ernstes aktiv mit der konkreten Anfrage konfrontiert, zusätzlich zum galaktischen Preis noch ein Trinkgeld zu geben. Das hatte ich nicht erwartet. Trinkgeld? Wofür? Für den umfassenden Service, den ich gerade (nicht) erhalten hatte? Oder für das knapp erkennbare Lächeln des Standpersonals? Ich fragte, ob jetzt Freundlichkeit kostenpflichtig sei. «Nein, Sie sind ja nicht gezwungen, ein Trinkgeld geben.». Aha. Freundlichkeit schien hier eine ausserordentliche (also nicht selbstverständliche) Zusatzleistung zu sein, die man dann «freiwillig» entlöhnen darf. Ich habe «kein Trinkgeld» ausgewählt.
Besondere Belohnung für besondere Leistungen
Damit wir uns richtig verstehen: Für guten Service in einem Restaurant gebe gerne ein (auch mal grosszügiges) Trinkgeld. Besondere Leistungen verdienen eine besondere Belohnung. Nur finde ich es bei der simplen Herausgabe von Glühwein schwierig, eine besondere Leistung zu erkennen. Und ja, ein freundliches Lächeln gehört für mich dazu, und das gebe ich auch gerne zurück.
Aber: Ich kann es natürlich nicht lassen, diese Art der Umsatzförderung auch aus der verkaufstechnischen Perspektive zu betrachten. Tatsächlich bin ich sicher, dass ein beträchtlicher Teil der (sich in Weihnachtsstimmung befindlichen) Kunden tatsächlich ein Trinkgeld gibt (was sonst sicher viel weniger der Fall wäre). So können die Marktstände ihre Umsätze messbar steigern. Und wenn das Trinkgeld sauber verbucht und auch an die Mitarbeiter abgeführt wird (was ich hoffe…), dann ist dies sicher ein cleverer Schachzug, den Mitarbeitern einen Weihnachtsbonus zu vermitteln, ohne ihn selbst finanzieren zu müssen. Er ist zudem clever, weil er geschickt die Strategien des Optionen-Pricings und des Framings mit dem Ausnutzen der Weihnachtsstimmung der Kunden kombiniert: Wie bei klassischen Options-Angeboten ist der zusätzliche Verkaufsaufwand praktisch null und ein merklicher Kundenanteil wird sich trotzdem dafür entscheiden und den Umsatz steigern. Und mit der Vorgabe der Trinkgeldvarianten (kein, 5%, 10%, 20%) wählen viele Kunden eine scheinbar vernünftige Mittelvariante und geben so vermutlich mehr Trinkgeld, als wenn sie den Betrag einfach aufrunden würden.
Frech, aber clever
Mein Fazit: Auch wenn ich es aus Kundensicht frech finde, habe ich am eigenen Leib wieder mal erfahren können, wie wirksam einfache Angebotstechniken wie Optionen-Pricing und Framing funktionieren können. Das funktioniert ähnlich gut, wenn Sie zum Beispiel zusätzlich zu einem Hardware-Angebot die Optionen «1 Jahr Garantieverlängerung», «2 Jahre Garantieverlängerung» und «3 Jahre Garantieverlängerung» offerieren. Das Schöne daran: Das werden die Kunden kaum als frech bewerten, weil ja eine Zusatzleistung dahintersteht. Sie können sicher sein, es wird Kunden geben, welche dieses Angebot annehmen. Frohe Weihnachten!
Christopher S. Kälin
Christopher S. Kälin ist Managing Partner bei CSK Management und verhilft seinen Kunden zu Umsatzsprüngen mit besseren Offerten und effizientem Angebotsmanagement. Zu seinen Kunden gehören grosse und kleine Unternehmen aller Branchen sowie das Who-is-Who der IT-Welt. Er ist der Autor des Standardwerks «Das grosse Bid-Management-Kompendium» und wurde 2013 von APMP mit dem prestigeträchtigen Fellow Award ausgezeichnet.