Der falsche Tucholsky

3. November 2008

     

Seit einiger Zeit kursiert ein Gedicht (siehe unten) im World Wide Web, das wie die Faust aufs Auge zur derzeitigen Finanzkrise passt und sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Es scheint, als sei es gestern verfasst worden, soll aber bereits 1930 aus der Feder von Kurt Tucholsky geflossen sein.

Die Internet-Leserschaft staunt und schickt es weiter, Tucholsky hingegen dreht sich ein, zweimal im Grabe um. Tucholsky, zweifelsohne einer der bedeutendsten Publizisten der Weimaer Republik, hätte zur derzeitigen Lage sicherlich gern seinen gesellschaftskritischen Senf dazu gegeben.


Doch jenes erwähnte Gedicht ist weder von Tucholsky noch aus dem Jahr 1930. Es stammt aus der Feder des Österreichers Richard Kerschhofer, verfasst wurde es im September anno 2008. Kerschhofer hatte das Gedicht in dem konservativen Wochenmagazin "Preussische Allgemeine Zeitung" sowie auf der Homepage der FPÖ-nahen "Genius-Gesellschaft" publiziert. Von dort wurde es unter anderem auf eine deutsche Homepage kopiert und dort neben ein Gedicht von Tucholsky gestellt.

Von der "Zeitbühne" - ein rechtsgerichtetes Blatt, für das Kerschhofer schreibt - zur "Weltbühne", wo Tucholsky die "Höhere Finanzmathematik" angeblich 1930 veröffentlicht hatte, brauchte es nur den Irrtum eines Verfassers eines Internetjournals, der fälschlicherweise annahm, dass auch Kerschhofers Gedicht von Tucholsky stammt. Kerschhofer reagierte amüsiert, brachte ihm die Sache doch bisher ungewohnte Aufmerksamkeit ein. Das Gedicht wurde mehrmals in Zeitungen abgedruckt, zudem liegen zahlreiche Interviewanfragen deutscher Medien vor.

Quintessenz: Nicht überall, wo Tucholsky drauf steht, ist auch Tucholsky drin und: Vertrauen ist gut, Kontrolle, oder im Falle von uns Journalisten Rechere, ist besser. Zumindest was das Internet und die modernen Kommunikationsmittel betrifft. (sk)

Hier das Gedicht:

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.


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