Draufgeschaut: User Experience?
Quelle: z.V.g

Draufgeschaut: User Experience?


Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2014/10

     

Dieser Tage fanden die Jury-Präsentationen zum Wettbewerb «ERP des Jahres» in Potsdam statt. Hier zeigen verschiedenste ERP-Anbieter ihre Systeme und versuchen, diese in ein gutes Licht zu rücken. Für den marktbegeisterten Experten eine gute Gelegenheit, echte Technologietrends auszumachen. Interessant war, dass vor der versierten Fachjury und einem eher KMU-orientierten Publikum die ganz grossen Schlagwörter – Cloud, In-Memory und wie sie sonst noch heissen mögen – fast gar nicht auftauchten. Ein neuer Trend war aber allen Anbieterdarstellungen gemeinsam: Man versucht sich mit neuen Oberflächen. App-like muss es werden, die User Experience steht im Vordergrund. Und so wurden munter ERP-Systeme präsentiert, die allerlei optischen Schabernack bereithielten. Asseco beispielsweise hat ihrem altgedienten System AP+ so grosse Bilder und Icons verpasst, dass maximal vier bis fünf Menüpunkte im Einstiegsmenü Platz haben. Die Bilder, die nun schon fast Leinwandgrösse haben, sehen toll aus. Dank der grossen Fläche erlauben sie es nun auch dem in der Mausbedienung unerfahrenen User, einfach die Schaltfläche zu treffen. Einer Touchscreen-Bedienung steht – zumindest bei der Menüwahl – nichts mehr im Wege!

Besonders dramatisch tritt der Vertreter von Infor auf: Ohne tolles Design steht das Ende von ERP bevor, so die offenbar vorherrschende Meinung! Infor hat das Problem erkannt und in New York City eine Design-Agentur mit über 200 Mitarbeitenden gegründet, um die Oberflächen und die Benutzerführung der eigenen Systeme zu verbessern. 200 Mitarbeiter – das ist mehr, als was die typische KMU-Konkurrenz als Entwickler aufbieten kann. Rausgekommen ist eine Art «Meta-Ober­fläche», die bedeutungsschwanger «Infor ION Motion Activity Desk» genannt wird. Toll sieht das aus. Wenn ich es richtig verstanden habe, kann ich jetzt ERP sogar mit einem Twitter-Account verbinden. Ungeahnte Anwendungswelten tun sich auf.

Natürlich werden die Präsentationen der Anbieter mit allerlei Argumentation angereichert. ERP-Oberflächen müssen sexy sein. Die Anwender sind sich App-Oberflächen gewöhnt und erwarten, dass sie sich mit ihren ERP-Systemen wohl fühlen. Der Coolness-Faktor wird immer wichtiger. Immerhin: Zwischendrin kommen auch durchaus vernünftige Argumente – man muss die informelle Welt von E-Mail und Telefonkommunikation mit der formalen Welt von ERP-Prozessen verbinden. Doch stimmt diese Argumentation? Werden sich die Anwender in Zukunft ihre Arbeitsplätze nach der Attraktivität der genutzten ERP-Systeme auswählen. Wohl eher nein. Steigern die neuen Oberflächen die Produktivität? Leider bleibt die Greenscreen-AS/400-Schnellerfassungsmaske mit Funktionstasten und Tab-Folgen bei der Auftragserfassung bis heute fast ungeschlagen, was nicht nur mit den viel besseren Response-Zeiten einer AS/400-Greenscreen-Oberfläche zu tun hat. Man kann wohl annehmen, dass die neuen Oberflächen die unternehmensinternen Gelegenheits-User vielleicht etwas mehr an die Systeme bringen. Damit wird klar, um was es geht: Oberflächen, die unter dem Slogan «User Experience» präsentiert werden, richten sich vor allem an die Teppich-Etage. Vielleicht gelingt es, aus dem einen oder anderen ERP-keuschen Manager wirklich einen ERP-User zu machen. Doch viel wichtiger ist der Verkaufs­effekt: Die neuen Oberflächen kommen beim Management einfach besser an. Damit wird der Manager aber als Entscheider und weniger als User adressiert. Wirkliche Benutzereffizienz und damit eine Effizienzsteigerung für das gesamte Unternehmen kann man mit so hippen Oberflächen nicht wirklich erreichen.

Die Anbieter zitieren zur Begründung dann gerne Studien, die vor allen in Usability-Labs an US-amerikanischen Hochschulen durchgeführt wurden. Hier dienen Studenten als Probanden. Der grosse Fehler ist aber, dass ERP-Prozesse in nahezu allen Bereichen zwingend geschulte User verlangen, die routiniert und ständig dieselben Funktionen bedienen. Hinzu kommt eine Prozess- und Funktionskomplexität, die den Umfang einer Airline-App oder einer Fitness-App deutlich übersteigen. Daher ist klar: Der grösste Hebel zur Ergonomie von ERP-Arbeitsplätzen ist nicht die Ober­flächengestaltung an sich, sondern die Definition und Abbildung des zugrundeliegenden Prozesses. In den klassischen ERP-Domänen sind diese Prozesse seit vielen Jahren bekannt und auch sehr umfangreich optimiert. Ein Riesenvorteil für den Anwender, aber etwas langweilig für die Verkäufer. Schade, dass man noch immer meint, Erfolg am ERP-Anwendermarkt sei über technische Innovation machbar. Letztlich zählt der Kundenerfolg im Tagesgeschäft. Wie meinte doch der Juror zu meiner Linken: «Jetzt haben sie so tolle Whitepapers für ihre Oberfläche, aber keine Kundenreferenz.»



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