«Unter Chapter 11 muss man heute sein, morgen ist es jeder»

Mit Peter Ludin (Bild), Global Crossings Area Vice President für Continental Europe, unterhielt sich IT Reseller über Vergangenheit und Zukunft von Global Crossing und der Carrier-Branche im allgemeinen.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2002/16

     

Global Crossing wird meist in einem Atemzug mit Enron und Worldcom genannt. Das Unternehmen hatte einst eine höhere Börsenkapitalisierung als General Motors – der Crash des globalen IP-Netzwerkbetreibers war damals der viertgrösste der US-Geschichte.
Nachdem sich das Unternehmen am 28. Januar 2002 freiwillig unter das Gläubigerschutzverfahren nach Chapter 11 stellte, glaubte man eigentlich, dass es Global Crossing wie vielen anderen Eintagsfliegen aus der Zeit des Internet-Hypes gehen würde: stille Liquidation und dann schnelles Vergessen.
Die Liquidation fand allerdings nicht statt, und im Laufe des Sommers überraschte Global Crossing sogar mit der Ankündigung neuer Kundenakquisitionen. Kann dieses Unternehmen nun, wenn einmal der Chapter 11-Prozess überstanden ist, wieder Weltmarktführer im internationalen Carrier-Business werden?
Peter Ludin, Global Crossings Area Vice President für Continental Europe, erzählt im folgenden Interview, wieso er trotz allem an eine glänzende Zukunft für sein Unternehmen glaubt und erklärt einige der Mechanismen, die zu der tiefen Misere im Carrier-Business geführt haben.
IT Reseller: Wieso wurde Global Crossing in diesem Frühling nicht sang- und klanglos liquidiert?
Peter Ludin: Da muss ich zuerst vorausschicken, wie die Entscheidungsfindung unter Chapter 11 läuft. Die Entscheidungen werden von einem Gremium der Gläubiger getroffen, unter dem Vorsitz eines Richters, der das ganze Verfahren leitet. Das Management des betroffenen Unternehmens hat eine klassische Beratungsfunktion und kann somit keine Entscheidungen bezüglich des Chapter 11-Verfahrens mehr treffen.
In den ersten zwei Monaten unter Chapter 11 dachte man tatsächlich vor allem an eine Liquidation: die vorhandene Liquidität einfrieren und dann Global Crossing in Teilen verkaufen. Damals hatten wir noch eine Milliarde Dollar in Cash und ein mehr oder weniger fertiggestelltes Netzwerk, das ebenfalls einen gewissen Wert darstellte.
Dann aber sind der Kreditorenausschuss, das Gericht und unser Management zum Schluss gekommen, dass Global Crossing als Ganzes inklusive seinem globalen Netzwerk mehr wert ist als die Summe seiner Einzelteile. Man war überzeugt, dass nach einer allfälligen Umschuldung – und wenn der Business Case stimmt – Global Crossing wieder eine Zukunft haben wird.

ITR: Was passierte in der Zwischenzeit?

PL: Zuerst hat man sich, wie erwähnt, die Liquidation überlegt. Gleichzeitig musste das Management aber auch einen Reorganisationsplan vorlegen, wie man erfolgreich aus dem Chapter 11 kommen könnte. Hauptsächlich ging es darum, wie wir die Investitions- und die operativen Kosten senken können.
Da wir im letzten Jahr im asiatisch-pazifischen Raum noch Kabel verlegen mussten, lagen die Investitionskosten bei 3,2 Mrd. Dollar. Weil das globale Netzwerk im 2001 fertig gebaut wurde, werden die Investitionskosten Ende 2002 unter 200 Mio. Dollar liegen. Zusätzlich wurden die meisten geplanten Neuinvestitionen gestoppt: Gestrichen wurden beispielsweise der Aufbau von Citynetzwerken in einigen europäischen Städten sowie die Erstellung von eigenen Collocation-Zentren.
Auch die Betriebsaufwendungen konnten massiv reduziert werden: Im vergangenen Jahr lagen sie noch bei 1,55 Mrd. Dollar, Ende 2002 sollten wir auf 720 Mio. Dollar herunter sein. Dazu musste zuerst die Mitarbeiterzahl reduziert werden: von 13’500 anfangs 2001 auf weniger als 5’000 zum heutigen Zeitpunkt. Das war, da muss man nicht darüber diskutieren, der schmerzlichste Prozess.

ITR: Aber wie macht man das, ohne Qualitätseinbussen zu riskieren?

PL: Zum Plan gehörte, dass wir möglichst keine Kunden verlieren dürfen. Ein anderes Ziel ist auch klar: Ende dieses Jahres rechnen wir mit einem positiven EBITDA.
Wir haben nur sehr wenige Leute aus dem Maintenance-Bereich entlassen. Einschneidende Konsequenzen hatte es dafür im Bereich Sales und Marketing. Nehmen sie nur mein Beispiel. Ich bin verantwortlich für Continental Europe inklusive Irland, aber ohne UK. Von ursprünglich 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bereich Sales und Marketing sind mir heute noch deren 14 geblieben.
Das heisst, wir sind hier im Power-Safe-Modus, ich habe im Prinzip noch einen Verkäufer pro Land. Die braucht es aber auch nicht, um bestehende Kunden zu pflegen. Dazu braucht es Projektmanager, Systemingenieure, Customer Service-Leute usw. Wenn Sie in so einer Phase sind, behalten Sie ja wohl die Leute, die Sie am wenigsten entbehren können.

ITR: Falls sie bleiben ...

PL: Ich hatte nur eine einzige Kündigung zu verzeichnen. Alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind äusserst motiviert an Bord geblieben. Zuerst hatte man noch stark befürchtet, dass frustrierte Mitarbeiter dem Unternehmen schaden könnten. Vor allem in Amerika reduzierten sich ja durch die nun wertlosen Stock-Options die Pensionskassengelder. Aber es ist erstaunlicherweise nichts passiert. Die Mitarbeitenden haben mit enormem Glauben und Motivation weiter am Wagen gezogen.
Zweitens konnten wir auf leichtere Weise Kosten sparen. Repräsentative Büroräumlichkeiten wie früher in Madrid, direkt neben dem Bernabeu-Stadion, alles in Marmor, das gibt es nicht mehr. Es steht auch nirgends geschrieben, dass ein Verkäufer mit dem Mercedes E-Klasse 320 zu den Kunden fahren muss. Auch hier gab es einen radikalen Schnitt.
ITR: Sind aber seit dem Januar nicht auch viele Kunden wegen der Unsicherheit abgesprungen?
PL: Ich habe in Continental Europe keinen wesentlichen Kunden verloren. Wir haben allerdings auch fast keine neuen Bestellungen erhalten, was in unserer Situation nicht weiter erstaunt. Man bestellt ja kein strategisches Netzwerk bei einem Unternehmen, das im Chapter 11 ist. Aber genau das ist ja auch unsere grosse Marktchance, wenn wir wieder aus dem Chapter 11 herauskommen: Zu diesem Zeitpunkt werden wir ein grundsolides Unternehmen mit einer schlagkräftigen Basis sein.

ITR: Wie sieht denn die Zukunft Ihrer Meinung nach aus?

PL: Es wird noch weitere Unternehmen geben, die gänzlich vom Markt verschwinden oder in das Chapter 11 kommen. Meiner Meinung nach stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Als wir uns am 28. Januar 2002 unter Chapter 11 stellten, war das wie eine kalte Dusche für eine unglaublich motivierte Truppe. Gut, man hat es kommen sehen, aber man glaubt ja bis zum letzten Moment eigentlich nicht daran, dass so etwas wirklich eintrifft.
Dann hielt John Legere, unser neuer CEO, seine erste Rede und sagte: Vertraut mir, unser Business Case ist gut, und wir haben geeignete Investoren. Ausserdem haben wir den Vorteil, dass wir als Erste wieder aus dem Chapter 11 herauskommen werden, und somit alle Chancen haben, die Marktführerschaft zu übernehmen.
Damals waren wir alle etwas ungläubig, als er das sagte, aber jetzt, etwas burschikos ausgedrückt, würde ich auch sagen: «Unter Chapter 11 muss man heute sein, denn morgen ist es jeder.»
Wir hatten in vielen Beziehungen einen schlechten Zeitpunkt erwischt, aber immerhin ein Timing hat geklappt: Letztes Jahr wurden noch 3,2 Mrd. Dollar investiert, und nun sind wir in der komfortablen Lage, dass unser Netz fertig erstellt ist und uns gehört.
ITR: Machen wir noch einen kurzen Ausflug in die Vergangenheit. Wie erklären Sie sich rückblickend den tiefen Fall von Global Crossing und der ganzen Branche?
PL: Da gibt es zwei Gründe, die ich hervorheben möchte. Erstens prognostizierten noch vor zwei bis drei Jahren sämtliche Marktforscher einen riesigen Bandbreitenbedarf: Der Internetverkehr würde um das 600-fache pro Jahr wachsen, E-Business sei die Zukunft usw. Dass das nicht eingetroffen ist, haben inzwischen ja alle gemerkt. Der Internetverkehr wächst zwar, aber nicht um das 600-fache, sondern lediglich um vielleicht das 6-fache. E-Business kommt, aber nicht so schnell, und es ist nicht so profitabel, wie es vermutet wurde.
Der Hauptgrund ist aber ein anderer: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Markt, in dem sechzig Monate hintereinander ununterbrochen die Preise um 10% sinken. Nicht 10% pro Jahr, sondern 10% pro Monat! Da lösen sich die anfänglichen goldenen Margen schnell in Luft auf.
An dieser Stelle muss ich einen kleinen Einschub machen: Generell gesprochen gibt es zwei Arten von Anbietern. Solche, die über eigene Kabel verfügen und solche, die die benötigten weltweiten Kapazitäten auf der Basis von langjährigen IRUs (Indefeasible Rights of Use) hinzugekauft haben. IRUs sind gemietete Kapazitäten über 10, 15, manchmal 30 Jahre. Solche IRUs werden mit einer Einmalzahlung im Voraus gemietet.
Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein einmal kalkulierter attraktiver Business Case, der auf langjähriger Abschreibung von IRUs basiert, nach drei oder vier Jahren des rapiden Preiszerfalls plötzlich nicht mehr sehr profitabel ist. Dies ist sicher einer der Gründe, die Unternehmen mit zugemieteten Netzwerken in Schwierigkeiten gebracht haben.
ITR: Global Crossing hatte aber ein anderes Konzept, und das hat auch nicht funktioniert.
PL: Bei Global Crossing hat alles mit dem ersten Atlantikkabel angefangen: Atlantic Crossing One. Ein Kabel ins Meer zu legen kostet enorm viel Geld, grob geschätzt eine Milliarde pro Atlantik- oder Pazifikkabel. Früher haben die Unternehmen sich dafür zu Konsortien zusammengeschlossen. Manchmal dauerte es 20 bis 30 Jahre, bis ein solches Kabel realisiert war.
Unser Unternehmensgründer Gary Winnick hatte eine durchaus brilliante Businessidee. Er versprach damals, innerhalb eines Jahres ein Kabel in den Atlantik zu legen und bot die Bandbreite bereits im Voraus an. Nach nur acht Wochen nach der Planung – der Bau hatte noch nicht einmal begonnen – war die gesamte damals verfügbare Bandbreite schon verkauft und das Kabel finanziert. Winnick konnte seine Versprechungen einhalten. Das ging so weiter mit Pacific Crossing, Asia Crossing und Latin America Crossing usw. Alles funktionierte wunderbar und rief damals ja auch weltweite Bewunderung hervor.
Gleichzeitig sank aber der Preis immer weiter, weil andere Unternehmen wie 360Network, Network One oder Carrier One mit ein bisschen Verspätung die Idee nachahmten und in den Markt eindrangen. So entstand immer mehr Bandbreite auf dem Markt. Diese Bandbreite wiederum musste möglichst schnell verkauft werden, um die Investitionen abzudecken: Dies verstärkte wiederum den Preiszerfall.
Dazu kam die technologische Entwicklung: Früher wurde eine Farbe, also eine Wellenlänge pro Faser, übertragen. Heute sind wir bereits bei 100 Farben, und jede Farbe trägt nicht mehr 2,5 GB/s, sondern 10 GB/s. Es gab also nicht nur immer mehr Kabel, sondern die Kabel konnten gleichzeitig auch immer mehr Daten übertragen. Das drückte den Preis noch weiter herunter – und irgendwann ging das Konzept nicht mehr auf. (Interview: hjm)



Der Deal

Mit Hutchison Telecommunications (Hutchison) und Singapore Technologies Telemedia (ST Telemedia) übernehmen zwei asiatische Konglomerate das Zepter der neuen Global Crossing, wenn der Carrier aus dem Chapter 11 kommt.
Hutchison ist eine 100%-ige Tochter von Hutchison Whampoa (HW), einem internationalen Konglomerat mit Hauptsitz in Hong Kong. Die Wurzeln dieses Konzerns reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. HW beschäftigt weltweit rund 120’000 Mitarbeitende. Zu seinen zahlreichen Tätigkeitsgebieten gehören neben der Telekommunikation auch Immobilien und Hotels, der Betrieb von Häfen, Industriebetriebe, Energie und Infrastruktur.
ST Telemedia ist sozusagen ein Staatsbetrieb in der vierten Generation: Es gehört zu 100% Singapore Technologies, das wiederum zu Temasek gehört, welches voll im Staatsbesitz ist.
ST Telemedia beschäftigt 2’800 Mitarbeitende, sein Kernbusiness sind Sprach- und Datenübertragung, Breitband und Multimedia sowie E-Services.
Für 250 Millionen Dollar erhalten die beiden Investoren 61,5% der Anteile an der neuen Global Crossing. Zum Vergleich: Als das Unternehmen ins Chapter 11 ging, wurde sein Wert noch auf 22 Milliarden Dollar geschätzt. Die Banken und anderen Gläubiger erhalten zusammen die restlichen 38,5% der Anteile, 300 Mio. Dollar in Cash und 200 Mio. Dollar in Schuldverschreibungen.


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