Es war eine eigentümliche Szene, welche sich letztes Jahr in den Seitengässchen Neapels abgespielt hatte: Nachdem Carabinieri in einer Blitzaktion 24 verdächtige Mafia-Mitglieder verhaftet haben, verabschiedeten sich diese von anderen Mitgliedern ihres Clans mit einem Kuss auf den Mund. Mit dieser Geste soll zum Ausdruck gebracht werden: Nichts soll jemals über meine Lippen kommen, das die Anderen oder die Organisation kompromittieren könnte. Der Kuss ist also sozusagen gleichbedeutend mit einem Pakt, niemals und zu keiner Zeit ein Geheimnis zu verraten, gleichgültig, wie sehr man auch von der Polizei und der Justiz in die Zange genommen wird.
Für ein kleines bisschen Ruhm
Ich bin weit davon entfernt, die kriminellen Machenschaften der Mafia gut zu heissen oder ihre Rituale zu romantisieren. Nichtsdestotrotz hat es mich eigenartig berührt, als ich diese Aufnahmen über den Bildschirm habe flimmern sehen. Nachdenklich gestimmt hat mich die Tatsache, dass die Tugend der Verschwiegenheit in unserer Gesellschaft ausgedient zu haben scheint. Zwar wird Diskretion und Verschwiegenheit überall eingefordert und jeder nimmt für sich in Anspruch, er könne ein Geheimnis für sich behalten. Doch die Realität sieht leider oft ganz anders aus: Da werden am Stammtisch in trauter Runde munter schmutzige Details aus dem Privatleben des besten Freundes ausgeplaudert. Und dies, obwohl man ihm hoch und heilig versprochen hat, rein gar nichts von dem, was man von ihm erfahren hat, an Dritte weiterzugeben. «Stell dir mal vor: Der Meier hat sich vor zwei Monaten von seiner Frau getrennt. Und das nach 20 Jahren. Er hat ein Verhältnis mit seiner Assistentin und seine Ex hat ihn in flagranti im Büro erwischt.» Für ein kleines bisschen Ruhm und die Möglichkeit, für ein paar Minuten im Rampenlicht zu stehen, gibt man seinen Freund der Lächerlichkeit preis und verstösst dabei, meist ohne ein schlechtes Gewissen zu verspüren, gegen das Versprechen der Verschwiegenheit, das einem der Andere abgerungen hat.
Auch die Tatsache, dass es mitunter belastend sein kann, ein Geheimnis für sich zu behalten, mag dazu führen, dass man sein eigenes Gewissen erleichtern möchte und Wortbruch begeht. Gerade aus diesem Grund scheint es mir sehr wichtig zu sein, dass man einen Menschen in seinem Redefluss stoppt, der in einem Gespräch beginnt, von sich aus intimste Details zu offenbaren. Man sollte ihn fragen, ob er einem dies wirklich alles erzählen möchte oder ob er seine Geheimnisse womöglich nicht besser für sich behalten sollte. So schützt man nicht nur den Anderen vor seiner eigenen Offenheit, sondern auch sich selbst davor, Geheimnisträger von etwas zu werden, das man womöglich gar nicht wissen möchte.
Das Phänomen des Geheimnisverrates dürfte wohl schon so alt wie die Menschheit sein. Schon der deutsche Schriftsteller und Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge meinte: «Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben ist die Verschwiegenheit. Man ist heutzutage so äusserst trügerisch in Versprechungen, ja in Beteuerungen und Schwüren, dass man ohne Scheu ein unter dem Siegel des Stillschweigens uns anvertrautes Geheimnis gewissenloserweise ausbreitet.»
Informationen bedeuten Wissen
Gerade Verkäufer erfahren in ihrer täglichen Arbeit von Kunden immer wieder grössere und kleinere Geheimnisse. Wer über Jahre eine Beziehung mit einem Geschäftspartner aufgebaut hat, stösst irgendwann nämlich von der reinen Geschäftsbeziehung auf die persönliche Ebene. Diese ist geprägt von einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis. Die Sympathie für den Anderen führt dann womöglich dazu, dass einem der Einkäufer auf informellem Weg beim Lunch erzählt, wer beim aktuellen Verkaufsprojekt von der Konkurrenz auch noch mitbietet. Solche informellen Informationen sind für jeden Verkäufer von unschätzbarem Wert. Und sie können darüber entscheiden, ob man ein Verkaufsprojekt für sich gewinnen kann oder an die Konkurrenz verliert. Denn wer als Vertriebsmitarbeiter innerhalb eines Accounts keine Freunde hat und den langwierigen und mühsamen Dienstweg beschreiten muss, der steht oft auf verlorenem Posten. Mehr Informationen als der Mitbewerb zu haben, bedeutet einen Vorsprung an Wissen. Es hilft einem, die richtige Vertriebsstrategie zu wählen und somit die Chancen auf den eigenen Erfolg zu erhöhen. Es ist darum kein Zufall, dass von der Antike bis zu heutigen Zeit bei kriegerischen Auseinandersetzungen immer versucht wurde, sehr schnell den Informationsfluss des Gegners zu untergraben oder zu zerstören. Sei es, indem man diesen mit falschen Informationen bewusst in die Irre zu führen suchte oder sei es, indem man wie beispielsweise im Krieg der Nato gegen das Gaddafi-Regime im letzten Jahr, zunächst sämtlichen Radio-, Funk- und Fernsehstationen lahmlegte.
In Mozarts berühmter Zauberflöte wird der Prinz Tamino von drei Knaben mit folgenden Worten ermahnt: «Sei standhaft, duldsam und verschwiegen.» Gleichgültig ob Arzt, Anwalt, Pfarrer oder eben auch Verkäufer: Wer mit Menschen zu tun hat und auf Grund seiner Position von Geheimnissen erfährt, die nur für seine Ohren bestimmt sind, muss schweigen können. Wer als Verkäufer dieses Schweigen bricht oder im Markt als «Schnurri» bekannt ist, der schneidet sich damit ins eigene Fleisch, werden ihm doch so künftig jene Informationen verwehrt bleiben, die er benötigt, um erfolgreich zu sein. Zugegebenermassen ist der Grat zwischen Verschwiegenheit als Tugend und dem berechnenden Verschweigen oftmals sehr schmal. Nichtsdestotrotz sollte gerade für Verkäufer der Satz gelten, den ich neulich einmal im Spielfilm «Habermann» gehört habe und der wie folgt lautet: «Wer wache Ohren hat, sollte einen faulen Mund haben.»
Markus Schefer
Markus Schefer ist selbständiger Personal- und Unternehmensberater und Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel für das Fach «Verkauf». markus@scheferpersonal.ch
(ms)