Lasst uns über Mittelmässigkeit sprechen. Was ist Mittelmässigkeit genau und warum erscheint sie oft negativ? Wie messen wir sie und wer sollte dies überhaupt tun dürfen?
Mittelmässigkeit wird fälschlicherweise oft als etwas Schlechtes angesehen, aber in Wahrheit bedeutet Mittelmässigkeit vielleicht einfach nur, realistische Erwartungen und Einstellungen zu haben. Das Streben nach Perfektion kann unmenschlich sein und zu unerreichbarem Druck führen – eine Tretmühle. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es in Ordnung ist, nicht in allem aussergewöhnlich zu sein. Es ist wichtig zu erkennen, dass Menschen in der stigmatisierten Mittelmässigkeit wohl nur wirtschaftlich optimal handeln, nämlich so gut wie nötig und nicht so gut wie möglich.
Wenn wir uns die Normalverteilung anschauen, betrifft Mittelmässigkeit denn auch etwa zwei Drittel der Bevölkerung. Das ist die Mittelschicht, die sich wohl auch oft mit Mittelmässigkeit überschneidet. Meiner Meinung nach ist das ein Ort, an dem man sich gut aufhalten kann und darf, denn die Mitte der Gesellschaft bietet nicht nur Raum für eine ausgewogenere Work-Life-Balance, sondern auch Schutz vor Gefahren, ähnlich einem Vogel- oder Fischschwarm, und genug Raum, um der Herde zu folgen. Und das ist genau der Ort, an dem ich sein möchte.
Ich habe oft gehört, dass mir Mittelmässigkeit vorgeworfen wurde. Nun ja, der Geniesser schweigt, wie man so sagt, denn es ist letztlich eine Frage von verschiedenen Positionen und Einschätzungen, auf einer Skala, bei der mindestens einer Person sicherlich nicht das Recht zusteht, sie zu beurteilen. Insbesondere gilt das für Vorgesetzte.
Die Gesellschaft idealisiert Hochleistungsteams, Spitzenkräfte und Mitarbeiter, die das Beste bieten können und zur gewünschten Ikone werden sollen. Dabei kann es gar nicht so viele Spitzenkräfte geben, wie benötigt würden. Es scheint, als würde die ganze Gesellschaft heute auf dem Prinzip dieser latenten Unzufriedenheit und Anforderung beruhen. Mittelmässigkeit ist also eine Frage des Standpunkts. Es hängt von der Perspektive und dem persönlichen Wertesystem ab, wie wir Mittelmässigkeit interpretieren und wertschätzen. Und der Platz an der Spitze ist zudem umkämpft und inflationär eng.
Besässe Mittelmässigkeit eine Packungsbeilage, könnte diese lauten: Der Druck, immer überdurchschnittlich zu sein, kann zu erheblichem Stress und Ängsten führen, was unerwünschte Nebenwirkungen verursachen kann. Mittelmässigkeit erlaubt es, sich auf persönliche Ziele zu konzentrieren, ohne sich übermässig mit Vergleichen und Wettbewerb zu belasten. Mittelmässigkeit erlaubt es Menschen zudem, die kleinen Freuden und Erfolge des Alltags zu schätzen, ohne dass sie aussergewöhnlich sein müssen.
Letztlich sollte jeder für sich selbst entscheiden, welchen Lebensstil und welche Ziele er anstrebt. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass ein Streben nach Mittelmässigkeit nicht bedeutet, auf Erfolg oder persönliches Wachstum zu verzichten. Vielmehr geht es darum, realistische Erwartungen zu haben, ein ausgewogenes Leben zu führen und die eigene Einzigartigkeit anzuerkennen. Topleistungen gehören natürlich dazu, sollten jedoch nicht als alleiniges Wertesystem dienen. Wir sind alle irgendwo «mittelmässig», und das ist doch absolut in Ordnung.
Zum Schluss möchte ich allen, die sich auf den Weg zur Hochleistungsperson machen, noch eine kleine Weisheit mitgeben, die vom früheren Bundesrat Willi Ritschard (1918 – † 1983) stammt: «Je höher der Affe klettert, desto mehr sieht man seinen Hintern».