VoIP-Streitgespräch: «Der Boom wird in den nächsten zwei Jahren sichtbar»

Wer wird im angesagten Boom-Markt gewinnen, die etablierten Telefonieplayers oder Newcomer wie Cisco? IT Reseller bat Nortel und Cisco, in einem Gespräch ihre Strategien zu erläutern.

Artikel erschienen in Swiss IT Reseller 2000/10

     

Neue Märkte sind spannend. Marktteilnehmer, Konzepte und Technologien stehen noch nicht fest. Werden neue Player wie Cisco, 3Com oder auch die schweizerische ALR bei der Konvergenz der traditionellen Sprachwelt zur gemischten Sprach/Daten-Welt dominieren oder sind es die etablierten Hersteller von Telekom-Infrastruktur wie Lucent, Nortel oder Siemens, die sich die fettesten Marktanteile schnappen werden? Welche Konzepte sind für welchen Markt die richtigen? IT Reseller hat diese Fragen in einem (Streit)-Gespräch den Vertretern von Nortel und Cisco gestellt.
hc: Voice-over-IP ist im Netzwerk-Channel und bei den Installationsfirmen spätestens in diesem Jahr das grosse Thema. Die beiden vertretenen Firmen haben je unterschiedliche Einstiegspunkte in den entstehenden VoIP-Markt. Nortel ist ein grosser Player im Markt für Telco-Infrastruktur wie auch für traditionelle PBX (Telefonvermittlungsanlagen), Cisco kommt vom Bau der IP-Netzwerke her. Wie sehen Sie, Herr Sticci und Herr Mathys, den heute existierenden VoIP-Markt in der Schweiz? Wieviele konkrete Installationen werdet ihr Ende Jahr in der Schweiz vorweisen können?
GS: Dieses Jahr werden gemäss einer Studie von Philips Infotech weltweit etwa 0.5% aller neuen TVAs IP-Call-Server sein. Im Jahr 2004 werden es dann aber schon etwa 30% sein. Langfristig werden die traditionellen PBX abgelöst werden.
HM: Der VoIP-Markt kann man nicht über die Anzahl Ports bestimmen, sondern man muss die Anzahl der Endgeräte zählen, die ohne Verbindung über eine TK-Anlage über VoIP kommunizieren können. Das müssen nicht unbedingt Telephone sein. So betrachtet wächst der Markt schneller als Herr Sticci schätzt. Der Boom wird in den nächsten zwei Jahren erst sichtbar werden.
GS: Da haben Sie schon recht. Man hat immer die Tendenz, die Auswirkungen von neuer Technologie auf die Anwender zu unterschätzen. Das sah man bei der GSM-Telephonie. Heute hat doch jedes Schulkind ein Natel im Sack, wie wir früher das Pausenbrot. Wenn uns Cisco Zahlen geben kann, die uns noch optimistischer stimmen können, sind wir natürlich froh.

HM: Tut mir leid, wir können Nortel keine Hoffnungen machen.

GS: Wir sehen das Jahr 2000 als Jahr der Pilotprojeke und führen unsere Kunden auf verschiedenen Wegen zur IP-Technologie. Wir gehen von der Tatsache aus, dass wir heute bei den Teilnehmervermittlungsanlagen einen Marktanteil von 30 bis 35 Prozent haben. Uns ist wichtig, dass die Firmen, die Millionen und Milliarden in PBX-Technologie investiert haben, zur neuen Technologie migrieren können. Wir zeigen für «Greenfields» (Neuinstallationen) aber auch Wege zur IP-Telefonie auf. Wir haben heute ca. zwei Dutzend Installationen realisiert, wo wir bestehende PBX von uns IP-fähig gemacht haben. Wir bieten IP-Gateways für die Meridian-PBX an, sowohl für die Trunk-Seite wie auch für die Teilnehmer-Seite. Wir schätzen, wir können bis Ende Jahr etwa 150 bis 200 Projekte in der Schweiz realisieren.

hc: Diese Projekte betreffen ausschliesslich die «Nachrüstung» von Nortel-PBX?

GS: Nicht nur. Es betrifft auch Callserver vom Joint-Venture Nortel-Matra, wo Nortel übrigens vor Kurzem die Mehrheit übernommen hat. Ein drittes Produkt für den KMU-Bereich – ein IP-fähiges Hybridprodukt — ist ein sogenanntes «Office-in-a-box».
mh: Wieviele User betrifft das und aus welchen Branchen kommen Eure Kunden?
GS: Das sind Meridian-User quer durch die ganze Industrie. Grossunternehmen setzen sich aber heute stärker mit Konvergenz und IP-Telefonie auseinander. Das Know-how bei Grossfirmen ist grösser als im KMU-Umfeld.

hc: Könnten wir solche interessanten Zahlen auch von Cisco haben?

HM: Cisco machte schon lange Vernetzungen von Zentralen über Datenverbindungen, also VoIP-Lösungen – auch schon letztes Jahr rüsteten wir Carrier mit VoIP-Vernetzungen über lange Distanzen aus. Es sind auch neue Carrier in den Markt eingetreten, die unsere Technologie einsetzen. Unsere Gateway-Reihe, wo Router bereits eingebaut sind, wird bereits produktiv eingesetzt und zwar vom Home-Office bis hin zu Enterprise-Lösungen.
Bei den Soft-PBX gehen wir dieses Jahr in die dritte Generation, inklusive unserer eigenen Telephone. Dieses Jahr werden es etwa 20 bis 25 Installationen von Soft-PBX in der Schweiz sein.
hc: Das sind jetzt noch nicht so beeindruckende Zahlen. Wann hebt der Markt ab, wann sind es 2000 oder 20’000 Installationen?
HM: Der Anstieg wird dieses Jahr passieren. Der Markt hat auf unsere dritte Generation gewartet, wo man Applikationen wie Unified Messaging und Callcenter integrieren kann. Dieses Jahr kommen die Applikationen zusammen und das Know-how ist jetzt auch in den Verkaufskanälen vorhanden.
GS: Der Markt wird abheben, wenn man dem Kunden, vor allem den Grossfirmen, die Möglichkeit gibt, die Investitionen der Vergangenheit in die Zukunft mitzunehmen. Kein Kunde will heute eine Meridian-PBX ausschalten, um eine völlig neue und unbekannte IP-Lösung zu instalieren. Die neuen Lösungen skalieren nicht, haben Mängel beim Quality-of-Service, haben die nötige Zuverlässigkeit nicht und, und, und. Ich gebe Ihnen Recht, Herr Mathys, Unified Messaging ist eine wunderbare Sache und die Integration von Callcenter und CRM-Applikationen ebenfalls. Doch die Frage, die der Kunden Ihnen stellt, ist: ‚wie integriere ich das in die bestehende Infrastruktur?’ An dieser Frage führt kein Weg vorbei. Das ist vielleicht der Unterschied zwischen unseren Positionen. Wir können auf einer bestehenden Kundenbasis aufbauen.

mh: Sprechen Cisco und Nortel zwei verschiedene Märkte an?

HM: In den grossen Firmen reden wahrscheinlich die verschiedenen Bereiche nicht miteinander. Tatsache ist, dass die meisten grossen Firmen heute Versuche mit IP-Telephonie machen. Man wird sicher nicht die grossen Systeme von einem Tag auf den anderen ausschalten. Aber bei neuen Gebäuden oder bei neuen Bedürfnissen wie Callcenters werden unsere Lösungen sehr genau angeschaut und wir kommen auch oft zum Zuge.
GS: Können Sie uns konkrete Beispiele nennen, wo Grossfirmen vollständig auf eine neue VoIP-Lösung setzen?
HM: Das grösste Beispiel sind wir von Cisco selbst. Jeder neue Mitarbeiter, auch im Campus von San Jose, bekommt ein IP-Telefon. Das sind Grössenordnungen von mehr als 3000 Benutzern auf einer Zentrale.
GS: Reden wir doch nichts schön. Auch Cisco setzt traditionelle PBX ein und zwar von Nortel.
Sie sagen, es gibt überall Versuche. Das ist richtig. Wir treffen Eure Boxen immer wieder mal an. Aber wo finden diese Versuche statt? Auf der untersten Ebenen bei den Daten-Leuten, die die Technlogie VoIP testen. Aber die Entscheide für einen Grosskonzern wie CS oder die Zürich fallen anders. Alle sehen das Bedürfnis für neue Applikationen und wollen in die zweite Generation des E-Business einsteigen. Aber sie schauen nicht nur die Technologie an. Wenn ein Herr Hüppi von der Zürich irgendeinmal die Bestellung unteschreiben muss, wird er sicher nicht seine PBX rausschmeissen.

mh: Werden wir doch konkret. Wo sind Eure Installationen?

HM: Es sind Chemieunternehmen, Tourismus-Regionen, Bankinstitute oder auch grosse Service-Provider, die einzelne Büros so ausrüsten. Es sind nicht nur Versuche, sondern die Kunden vertrauen auf die Technologie.
Die Versuche, von denen ich sprach, betreffen grosse Unternehmen, die Ihre Telefoniezentralen über IP vernetzen. Diese Unternehmen sehen jetzt, dass man das Vertrauen in die Technologie gewinnen kann und absolut vergleichbare Möglichkeiten hat.
GS: Was uns zur höheren Zahl von Installationen in diesem Jahr verhilft, ist die Tatsache, dass wir dem Kunden zwei Wege anbieten. Einerseits die Migration für traditionelle Meridian-User. Andererseits aber auch Lösungen für Neubauten mit unseren «Succession Communication Server for Enterprise». Im KMU-Umfeld haben wir mit dem «Succession Enterprise-Edge» ein «All-in-a-Box» Produkt anzubieten. Damit können wir für verschiedene Marktsegmente Lösungen anbieten.
hc: In welchem Markt sieht Cisco die besten Chancen für Soft-PBX und IP-Telephone?
HM: Das ist eher eine Frage der Wiederverkäufer. Wo sind die Netzwerke bereit und wo haben die Wiederverkäufer das Know-how? Es macht keinen Sinn, ein Datennetz speziell für Telefonie aufzubauen. Wir richten unser Marketing nicht auf bestimmte Segmente, sondern die Kundennachfrage bestimmt, in welchem Segment die ersten Installationen ausgeführt werden.
hc: Ich vermute, bei Cisco kommen die Nachfragen vor allem bei Projekten mit Neubauten.
HM: Nein, es hält sich die Wage. Bei Neubauten gibt es fast sicher eine Nachfrage, aber es gibt auch überraschend viele Anfragen aus der traditionellen Telephonie. Die wollen manchmal sogar ihre alte Verkabelung einsetzen und fragen nach Gateways, um neue Möglichkeiten wie die einfache Anbindung von Applikationen zu nutzen.
GS: Aber sobald Sie alte Anlagen und neue Soft-PBX von verschiedenen Herstellern zusammenhängen, sind die Funktionalitäten stark eingeschränkt. Die zwei verstehen sich dann nur sehr rudimentär. Das muss man berücksichtigen. Wir sehen eine gewisse Segmentierung des Marktes und bieten keine «One-Size-fits-all»-Lösungen. Auch weil wir verschiedene Lösungen bieten. Mit Succession Enterprise Edge bieten wir ein Produkt für den KMU-Markt, das im Q3 verfügbar sein wird. Wir konnten einen grossen Dienste-Anbieter gewinnen, der das Produkt vertreiben wird. Mit weiteren sind wir im Gespräch. So werden wir einen sehr breiten Marktzugang finden. Ich denke im KMU-Markt gibt es heute ein sehr grosses Potential für VoIP-Lösungen, weil ein KMU eher eine ganze Installation ersetzen kann. Bei Lösungen für 80 bis 100 Teilnehmer kostet das dann etwa noch 500 Franken pro Teilnehmer.
hc: Herr Matthys, stimmt der Vorwurf, Cisco schlage alle Kunden über einen Leisten?
HM: Im Bereich von 20 bis etwa 10’000 Teilnehmer haben wir tatsächlich eine einheitliche Plattform. Durch transparentes Clustering von mehreren Servern erreichen wir Lösungen für mittlere und grosse Enterprise-Kunden.
GS: Ich habe da einen leichten Einwand. Es geht nicht darum, Serverleistung zu erhöhen. Das mag bei einem einzigen Gebäude stimmen. Aber sobald sie versuchen, verschiedenen Subnetze miteinander zu verbinden und auf verschiedene Produkte zugreifen müssen, ist die Skalierbarkeit dann nicht mehr gewährleistet. Unser Angebot beim Layer3-Switching ist dem Angebot von Cisco überlegen und skaliert besser. Theoretisch hat Herr Mathys recht. Aber sobald sie zwei oder drei Filialen über einen langsamen Router verbinden wollen, bekommen Sie Engpässe.

hc: Gibt es Installtionen von Cisco mit 10’000 Teilnehmern?

HM: Cisco empfiehlt heute Anlagen bis 10’000 Benutzer. Das basiert immer auf Anlagen, die wir selber einsetzen.
GS: Das würde ich gerne selbst sehen! Wenn ich an die Hersteller denke, die wissen, wie man 20’000 Teilnehmer verbindet, dann kommen mir nur wenige in den Sinn. Und Cisco ist nicht darunter.
hc: Welches ist je Eurer bevorzugter Channel, der VoIP-Lösungen verkaufen wird? Sind es die traditionellen, zum Teil sehr grossen, Installateur-Firmen wie Burkhalter, oder werden es die Netzwerk-VARs sein?
HM: Es entwickeln sich parallele Channels. Aus der IT-Welt wie auch aus der Telephonie-Welt, zum Beispiel Carrier oder Telefonie-Anbieter, die sehr interessiert sind die neuen Möglichkeiten zu nutzen.
GS: Ich bin mit der Aussage von Herrn Mathys einverstanden. Traditionelle Voice-Anbieter, wie zum Beispiel eine Ascom, haben grosse Schritte im Bereich Daten gemacht. Eine Ascom ist einer unserer Key-Channel auf der Meridian- wie auch der Succession-Linie. Aber wir sehen auch die traditionellen Firmen aus dem Installations- und Telefonie-Bereich als unsere Key-Partner. Wir führen mit zwei der grossen Gruppen Gespräche, die in der Phase zwei des Rollouts die Succession-Linie im Bereich KMU vertreiben werden. Auch Dienste-Anbieter werden im KMU-Umfeld Dienstleistungen verkaufen und Know-how aufbauen. Ein weiterer Channel von uns sind die Systemintegratoren wie Econis und Commcare.
HM: Ich finde es sehr schön, dass gerade Eure grossen Partner sich nicht auf einen Hersteller verlassen, sondern mehrgleisig fahren!
GS: Wenn ich «One-Size-fits-all» hätte, würde ich mich auch auf verschiedene Hersteller stützen. Der wesentliche Unterschied zwischen Ihrer und unserer Strategie ist, dass wir eine haben. Wir können den Weg von der alten Welt in die neue Welt zeigen.
HM: Klar, der Voice-Markt ist nicht unser einziges Geschäft. Wir wollen unseren Kunden helfen, den Nutzen aus den Datennetzen zu ziehen. Sie sollen nicht abhängig sein von einer einzelnen Maschine. Wir wollen offene Interfaces und auch Dritt-Anbieter zulassen. Damit wird schnelleres Wachstum möglich, als es eine einzelne Firma zulassen kann.



Die Teilnehmer:

Giordano Sticci, Director Small/Medium Enterprise Business & Distribution Central
Europe, Nortel Networks (GS)

Hans Mathys, Consulting Systems Engineer, Cisco Systems (HM)


Markus Häfliger, Redaktor IT Reseller (mh)


Christoph Hugenschmidt, Redaktor IT Reseller (hc)


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